Jeder Kilometer zählt!

Über 75 Sponsoren haben für jeden von mir gefahrenen Velokilometer in den USA 1 Rappen an Tixi gespendet. Herzlichsten Dank!

Durch Ohio, Indiana, bis nach Chicago

07.07. - Tagwacht um 02:08 und Gegenwind

02:08 Tagwacht? Natürlich nicht freiwillig, wie man sich vorstellen kann. Schuld ist der Feueralarm, der auf einmal ohrenbetäubend ertönt. Gefolgt von der Durchsage: "An emergency has been detected, please proceed to...". Stille. Na dann kanns ja nicht so ein grosser Notfall sein, denk ich mir, leg mich wieder hin und lausche mal, ob sich im Gang draussen was tut. Offensichtlich haben die meisten das selbe gedacht. Ich höre gerade mal eine einzige Tür aufgehen. Auch als 5 Minuten später die Feuerwehrsirenen zu hören sind, regt sich nix. Zum Glück ist der ganze Spuk in 15 Minuten vorbei und ich kann beruhigt wieder schlafen gehen. Heute gehts weiter nach Wadsworth. Der Weg dorthin ist zwar mit weniger Hügeln  versehen, aber der Gegenwind macht mir zu schaffen. Ich weiss, dass dieser in den Great Plains noch zulegen wird und das heute mir wahrscheinlich wie ein laues Sommerabendlüftchen vorkommen wird. Aber für den Moment reichts mir. Meine Zvieri-Pause leg ich am Rande eines Golfplatzes auf einem Bänklein ein. Es dauert gerade mal 10 Sekunden und Dutzende von Moskitos schwirren um mich rum. Mit ein bisschen Handwedeln lassen sich die Biester leider nicht abwimmeln. Ich habe auf einmal das Gefühl, irgendwo in den Sümpfen des Amazonas zu sein, aber defintiv nicht auf einem Golfplatz in Ohio. Die Viehcher stechen mich durchs T-Shirt und meine Velohosen! Ich beschliesse schon nach wenigen Minuten, mich wieder auf den Weg zu machen. Genau zu dem Zeitpunkt fängt es an, wie aus Kübeln zu regnen. Super Timing... Ich stell mich unter ein paar Bäume am Strassenrand, in der Hoffnung, der Schauer höre bald auf. Leider scheinen die lästigen Stechmücken die selbe Idee zu haben. Es wird so unerträglich, dass ich es vorziehe, im Gewitter weiterzufahren - ich hab einfach keine Chance gegen die fiesen Blutsauger. Beim nächsten CVS stoppe ich kurzerhand und kaufe mir vorsorglich schon mal eine Créme gegen Insektenstiche. Vor dem finalen Endspurt mach ich noch eine kurze Pause bei McDonald's in Akron. Während ich mir drinnen einen Cheeseburger und ein Filet-o-Fish bestelle, steht draussen ein Mann vor meinem Velo und macht aufgeregt Fotos. Jessie stellt sich mir vor und erzählt leidenschaftlich, dass er Velomechaniker ist und seit 40 Jahren Fahrrad fährt und noch nie so ein Bike gesehen hat. Er fragt mich über jedes Detail meines Velos aus und lässt mich fast nicht mehr zurück auf die Strasse - aber ich muss breit grinsen, ab so viel Begeisterung. Kurz nach 19.00 komm ich in meinem Motel in Wadsworth endlich an. Der Nachbar aus 107 kommt gleich mit seinem Hund Bruiser zu mir rüber und fragt interessiert, wo ich herkomme und was meine Pläne sind. Ich erzähle ein bisschen und möchte dann wissen, wo er denn sonst lebt. Ich erfahre, dass er eigentlich aus der Gegend ist: "I'm from around here, but I'm homeless". Er erzählt mir, dass er eine Scheidung hinter sich hat, seinen Job verlor und seine "AHV" hinten und vorne nicht reicht, so dass er Gelegenheitsjobs braucht, um über die Runden zu kommen. Seine vier Kinder wollen/können ihn offensichtlich nicht unterstützen. Seine Geschichte macht mich betroffen und in dem Moment ist die Schweiz grad sehr weit weg...

08.07. - Mehr Gegenwind und ein gratis Mittagessen

Ein Blick aus dem Fenster sagt mir, dass es heute definitiv nicht ohne Regen gehen wird. Dicke Wolken hängen über Wadsworth und ein starker Wind lässt böses ahnen. So montiere ich schon vorsorglich meine Regenhose und -jacke, als ich nach 10.00 Uhr, mit einem deftigen Frühstück im Magen, den lokalen Diner verlasse. Es geht dann auch nur knapp 20 Minuten und wenige Kilometer, bis es wie aus Kübeln anfängt zu regnen. Nachdem es mich zuvor über die ganze Strecke fast vom Fahrrad geblasen hätte. Ich fahre vorerst tapfer weiter, obwohl ich teilweise nicht mal zwei Meter sehe und die vorbeifahrenden Autos mich immer wieder mit zusätzlichem Regenwasser bespritzen. Nicht, dass ich nicht Ausschau nach einem Unterstand gehalten hätte. Aber zwischen den Dörfern hier gibt es jeweils nicht viel Möglichkeiten und die wenigen Häuser oder Farmen sind umzäunt oder so weit vom Strassenrand entfernt, dass es sich nicht anbietet. Als ich also im nächsten Kaff einfahre, mach ich gleich bei der ersten Drive-Through-Eisdiele Halt. Netter Nebeneffekt ist ein leckeres Schoggi-Glace :) Nach etwa einer weiteren halben Stunde scheint das Schlimmste überstanden. Ich mache mich also wieder auf und fahre auf der von Hitze dampfenden Strasse weiter. Nur um nach einer Stunde wiederum die Gegend nach einer geschützten Stelle abzusuchen, weil bedrohliche Wolken aufziehen. Diesmal ist es ein kleiner Diner mit gerade mal sechs Tischchen. Die beiden mittelalter-lichen Service-Damen und der Hosenträger tragende Pensionär freuts und sie können meine Geschichte kaum glauben. Eine der Servierdüsen, Gail, ist richtig gehend enttäuscht, dass sie das nicht vorher wusste - sonst hätte sie der Lokalzeitung Bescheid gegeben. Bin ich froh... Das kleine Hüttchen füllt sich mit ein paar mehr Leuten und jedem wird natürlich gleich mein Vorhaben verkündet - nicht von mir. Ich werde von allen Seite mit Fragen bestürmt und komme kaum dazu, meinen Burger zu verdrücken. Als ich nach etwa einer Stunde den Teller dann doch geleert habe und es draussen auch wieder freundlicher aussieht, mache ich mich auf dem Weg. beim Bezahlen erfahre ich, dass mich der nette Hosenträger-Pensionär eingeladen hat! Zum Abschied drückt mir Gail einen frankierten Briefumschlag in die Hand und bittet mich, ihr zu schreiben wenn ich heil in San Fancisco angekommen bin. "I will pray for you", verspricht sie mir in besorgtem Ton. Ich bin richtiggehend gerührt ab so viel Anteilnahme. Ich mache mich guter Dinge auf den weiteren Weg Richtung Willard. Nur um wenige Kilometer später mit einem starken Gegenwind zu kämpfen. Auch das noch! Obwohl das Gelände inzwischen topfeben ist, fahre ich teileweise nicht schneller als 7 km/h. Immer wieder kommen Windböen von vorne, wenn ich gerade dachte

jetzt wird's bestimmt besser. Die Sonne scheint, der Wind bläst und ich schimpfe wie ein Rohrspatz - es hilft alles nix. Völlig am Ende komme ich in meinem Motel in Willard an. Zum Glück habe ich am Abend vorher noch reserviert, denn vor der Reception hängt ein grosses Schild 'No vacancy. Ich schaue mich um und sehe vor allem Männer, die irgendwo auf einer Baustelle oder in einer Mine in der Gegend zu arbeiten scheinen. Der indisch-stämmige Receptionist warnt mich denn auch, dass die Badetücher im Zimmer vielleicht graue oder schwarze Spuren aufwiesen. Das sei nicht, weil sie unsauber seien, versichert er mir mit Nachdruck. Aber die Arbeiter scheinen die Tücher jeweils auch noch zum abwischen ihrer Lastwagen zu benutzen, vermutet er. Mir egal, Hauptsache ich kann bald Duschen und mich auf dem Bett ausstrecken. Beim entladen meines Velos vor dem Zimmer gesellt sich ein etwa 1.90-Mann namens Robert zu mir und lädt mich zum Nachtessen vor seiner Bleibe ein: "We‘ gonna fry some fish later if you wanna join". Ich lehne dankend ab. Mir ist nicht unbedingt nach verkohltem Fisch von einem klapprigen Metall-Holzkohle-Grill, der wahrscheinlich noch nie seit seinem Bestehen geputzt worden war. Da laufe ich doch lieber die zwanzig Schritte zum Mexikaner gleich neben dem Motel-Parkplatz und gönne mir eine Chicken-Fajita und einen grossen Teller mit Käse überbackenen Nachos und endlos Guacamole.


09.07. - Motel from Hell und ein weiterer Platten

Heute standen bescheidene 64 km auf dem Programm, von Willard nach Fostoria. Bei schönstem Wetter starte ich relativ spät und fahre um 10.45 weg. Ich besorge mir an der ersten Tankstelle Wasser und Apfelsaft. Die letzten zwei Wochen hab ich meinen Durst jeweils mit Gatorade in allen möglichen Farben gelöscht. Ich brauche etwas Abwechslung. Was man an den Tankstellen nur sehr schwer bekommt, sind Früchte, die nicht in Konserven kommen. Also weiter und Ausschau halten nach irgendeinem Laden, der frisch Produkte haben könnte. Nach ca. 10 km taucht ein Dollar General auf der anderen Strassenseite auf. Ich versuche mein Glück, aber auch hier klappts nicht. Der Verkäufer schaut mich mitleidig an und meint, da müsste ich wohl nochmals 20 Meilen bis zum nächsten grösseren Ort fahren. Wovon ernähren sich die Leute hier eigentlich? Als ich etwa 30 km später meinen dritten platten Reifen in zwei Wochen auf einem riesigen walmart-Parkplatz wechseln muss, bekomm ich eine Idee. Ich nutze die unfreiwillige Pause und kaufe mir die lang ersehnten Äpfel und Bananen. An der Kasse steht eine 6-köpfige Familie mit einem Wagen voller Lebensmittel vor mir. Liebenswürdigerweise lassen sie mich meinen kleinen Einkauf zuerst bezahlen.  Während die Kassiererin zum 10-mal den falschen Code für meine Äpfel eingibt, schau ich mich etwas auf dem Förderband  um: Pop-Tarts, Swiss Rolls, Orange Rush, Pretzel und viele weitere ungesunde Sachen mehr. Alles klar. Aber ein Apfel zwischendurch wäre doch… - nevermind. Dank der kurzen Strecke und wenig Wind komme ich bereits vor 17.00 in Fostoria an. Das Motel ist wiedermal wie aus dem Bilderbuch: Der indische Betreiber akzeptiert keine Kreditkarten und ich krame das letzte Bargeld, das ich noch habe, aus meinem Portemonnaie. Er verlangt sogar noch ein Depot für den Schlüssel. Als ob ich freiwillig den speckigen Schlüssel mitgehen lassen würde. Ich wage fast nicht zu fragen, ob es Wifi gibt und prompt bekomme ich nur ein verständnisloses Kopfschütteln.  Zu sagen, dass das Zimmer mit viel Liebe eingerichtet wurde, wäre ein Verbrechen. Die Möbel standen sicherlich alle schon mal auf dem Vorplatz einer Müllverbrennungsanlage und geputzt wird hier sicherlich regelmässig – einmal jedes Schaltjahr. Als Highlight hat die Connecting-Door ein faustgrosses Loch, das man mit ein paar Kleenex behelfsmässig gestopft hat. Eins wird schnell klar: Der wortkarge Herr vom Empfang hat definitiv keine Hotelfachschule absolviert.

10.07. - Gentech und transparente Chefs

Die 80 km von Fostoria nach Napoleon vergehen wie im Fluge. Das Land hier ist wirklich topfeben - nach dem hügligen Pennsylvania eine Wohltat. Ausser einem 20-minütigen Picknick-Lunch unter einem Baum an einem idyllischen Weiher gibts keine grösseren Unterbrechungen mehr. Fotos kann ich vom Velo aus während der Fahrt machen, weil die Strassen und Wege hier so schwach befahren sind. Am schönsten sind die letzten 20 km, die ich ausschliesslich auf etwas besseren Feldwegen zurücklege. Links und rechts ganz nah die Soja-, Weizen- und Maisfelder und immer mal wieder ein paar Farmen. Zu meinem grossen Erstaunen sind die Felder oftmals mit Schildern beschriftet, wo drauf steht, welches gentechnisch veränderte Saatgut hier angepflanzt worden ist. Offenbar haben die Amis ein etwas unverkrampfteres Verhältnis zu Gen-Mais & Co. als wir. Obwohl sich das ja langsam ändern soll, gemäss einem Artikel der Zeit Online. Ich bin mir da jedoch nicht so sicher. Das Thema scheint lediglich in liberaleren Städten wie New York, San Francisco etc. aktuell zu sein. Dort setzen sich die Leute mit Themen wie Bio auseinander oder legen Wert darauf, regionale Produkte zu kaufen. In den Gegenden, durch die ich in den letzten zwei Wochen gefahren bin, und die machen einen wesentlich grösseren Teil der Bevölkerung der USA aus, beschäftigen die Leute vor allem die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven und ihr starker Glaube an Gott. Nachdem ich gestern ja im Hotel from Hell übernachtet habe, gönne ich mir heute an meinem nächsten Stop, Napoleon, ein Holiday Inn Express. Doch bevor ich dort einchecke, gibts wiedermal einen kurzen Boxen-Stop bei Burger King. Und dort wartet wieder mal eine Erfahrung der anderen Art auf mich! Ich setze mich mit meinem Regular-Coke-no-Ice an einen Platz, wo ich wie immer mein Velo gut im Blickfeld habe. Der einzige andere Tisch, der besetzt ist, ist jener, wo der Chef mit einem jungen Angestellten offenbar grad ein Mitarbeitergespräch führt. Zuerst denke ich, ich hör nicht richtig. Aber die sprechen tatsächlich mitten im Restaurant über Dinge, die normalerweise nur hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Das nenn ich mal Transparenz :) Und während der Chef seinen Apple-Pie mampft fragt er in allem Ernst sein junges Gegenüber, was dieser den zum Erfolg des Ladens so beitragen könne. Worauf dieser, ohne gross zu überlegen, in etwa antwortet: "I shouldn't yell at customers and be more friendly..." - "Ja, das wär doch ganz nett", denk ich mir und bin froh, dass man mich nach dem Betreten des Lokals nicht gleich wieder rausgeschmissen hat. Wie ich weiter vernehme, gabs diese Woche offenbar einen Zwischenfall, wo eine Bekannte des jungen Mitarbeiters im Restaurant aufgetaucht ist und die beiden ihren Zwist in aller Öffentlichkeit ausgetragen haben. Ich sag euch, das ist besser als in jeder Talk-Show: Ich könnte stundenlang hier sitzen, an meiner Cola nippend den kostenlosen Refill in Anspruch nehmen, und der Diskussion lauschen! Als der Chef den Apfelkuchen schon fast verdrückt hat, kommt noch seine Abschlussfrage: "And what can I do to make you more successful?" Da hat er sich das Beste ja tatsächlich für den Schluss aufgehoben. Ganz nach dem Motto: Save the best for last. Die Antwort des Nachwuchstalents, nach längerem Überlegen als zuvor: "Nothin'". Das hab ich mir fast gedacht... Wenn ihr euch das nächste Mal über euren Chef beklagt, denkt daran: Es könnte schlimmer sein!

11.07. - Switzerland meets France

Den grössten Teil meines Ruhetags verbringe ich am Ufer des Maumee Rivers, der ca. 200 km nördlich bei Toledo in den Lake Erie fliesst. Ich finde dort einen grösseren Flecken Rasen mit ein paar schattenspendenden Bäumen. So   liege ich die nächsten Stunden entspannt auf meiner Decke und beginne mein neues Buch "The thousand autumns of Jacob de Zoet" zu lesen. Kurz vor 16.00 packe ich meine sieben Sachen, um bei dem Nagelstudio, das ich beim vorbeifahren an der Haupstrasse entdeckt habe, vorbeizuschauen - man gönnt sich ja sonst nichts. Nicht dass es schwer gewesen wäre, den Laden auszumachen, da die Strasse nicht mehr als zehn Shops hat, davon zwei, um T-Shirts bedrucken oder besticken zu lassen. Muss der riesen Renner sein hier in Napoleon. Leider ist der Schönheitssalon total ausgebucht, da morgen irgendwo eine Hochzeit im Städtchen stattfinden soll. Jetzt wird mir auch klar, wieso der Parkplatz "meines" Motels so voll ist. Na dann heisst es halt warten bis Chicago - sind ja nur noch vier Tage. Beim rauslaufen kommt mir auf einmal ein Velofahrer auf dem Trottoir entgegen. Sein Fahrrad ist von vorne bis hinten bepackt mit Ortlieb-Taschen, genau wie ich sonst auch! Ich freue mich sehr, zum ersten Mal einen Gleichgesinnten zu treffen und nachdem wir uns eine halbe Stunde in der gleissenden Sonne vor dem Beauty-Parlor ausgetauscht haben, setzen wir uns ins Spengler's über die Strasse bei Iced Tea, Limonade und einem Stück Blueberry Pie. Valentin kommt aus Frankreich und hat kürzlich sein Studium in Paris abgeschlossen. Er hat seine Tour etwa um die gleiche Zeit wie ich begonnen, nur dass er von Montreal aus gestartet ist und vorwiegend den Routen der Adventure Cycling Association folgt. Aber wir haben das selbe Ziel - San Francisco. Auch er macht so etwas zum ersten Mal und wir haben uns viel zu erzählen über unsere neuen Erfahrungen. Im Gegensatz zu mir campiert er jeden Abend - wild, wo er grad ist wenns langsam dunkel wird. Dann duscht er halt zwei bis drei Tage nicht und zu essen gibts vorwiegend    Tankstellen- und Supermarkt-Food. Mir graust... Er erzählt mir von einem Velofahrer, den er kürzlich angetroffen hat, der mit einem Fixie (Eingangrad) und einem Rucksack unterwegs ist, wobei dieser im Rucksack noch das Zelt reingepackt hat. Ich muss grinsen: Meine Tour ist quasi die First-Class-Variante, während alle anderen in der Eco oder im Frachtraum sitzen wollen. Da Valentin sich noch um einen Schlafplatz kümmern muss, verabreden wir uns zum Dinner für später. Wir landen beim Chinesen an der Ausfallstrasse, der All-you-can-eat-Buffet für USD 4.95 pro Person anbietet. Alternativen sind wie immer McDonald's & Co. Es ist ein äusserst kurzweiliger Abend, wir lachen viel und es tut gut mit jemandem zu reden, der gerade ähnliche Erfahrungen macht wie ich. Er toppt sogar noch meine BK-Mitarbeiter-Quali-Geschichte! Er sass in einem vollen Restaurant während eines Jobinterviews am Nebentisch, hat das ganze Gespräch mitgehört und danach mitbekommen, wie der Interviewer sich an der Theke mit dem Chef über den Kandidaten austauschte - während dieser immer noch auf seinem Platz sass...    'Andere Länder, andere Sitten' ist das einzige, was mir dazu   einfällt. Wie der Zufall es will, wird Valentin nächste Woche um die selbe Zeit wie ich in Chicago sein. Wir beschliessen kurzerhand, uns dort bei Drinks und Abendessen wieder zu treffen. Als wir das Lokal verlassen ist es inzwischen dunkel, und meine Begleitung beschliesst   spontan, sein Nachtlager auf der Wiese hinter dem China-Restaurant aufzuschlagen. "Lieber er wie ich", denk ich mir und radle zurück ins Holday Inn Express, wo ein kuschliges Queen-Size-Bett und eine Dusche auf mich warten. Fast hät ich's vergessen: Wollt ihr wissen, was mein Fortune-Cookie sagt? - "The time is right to make new friends." Und da soll mal einer sagen, das sei alles Humbug :)

12.07. - Nur noch drei Tage bis Chicago

Heute stehen nicht ganz 100 km auf dem Programm und die "Kantonsgrenze" von Ohio nach Indiana. Dank der flachen Strecke, wenig Gegendwind und viel Wolken, schaff ich die Route in einer Rekordzeit von 05:40. Rekordzeit für mich zumindest! Ich gönne mir zwei Pausen auf dem Weg nach Kendallville. Die erste ist an einer Tankstelle kurz nach 12:00, um mir etwas zu trinken zu kaufen. Im Moment füll ich mir jeweils meine 1.5 Liter Evian-Flasche und stoppe an den Tankstellen entlang der Highways, wenn nötig, um meinen Flüssigkeitshaushalt auf einem guten Level zu halten. So spar ich mir jeweils ein 1 kg zusätzliches Gewicht an Wasser ein. Ich bezahle meinen Eistee und stehe dabei neben einer Gruppe von drei Truck Drivers, die gerade auf dem Heimweg von Chicago nach Pennsylvania ist. Die Herren warnen mich netterweise vor ihren gefährlichen Berufskollegen, die es vor allem rund um Chicago häufiger geben soll. James "Jim" Walter Snyder Jr. läuft sogar zurück zu seinem Truck, um mir seine Visitenkarte zu holen - für Notfälle. Es ist mir zwar noch nicht ganz klar, wie er mir "back in Pennsylvania" auf den gefährlichen Strassen von Chicago helfen kann, aber nett ist es auf jeden Fall. Und falls ich mal irgendwann in meinem Leben Kohle, Sand, Steine oder Abfall transportieren muss, eventuell auch Schnee pflügen, dann werd ich auf jeden Fall zuerst Jim anrufen. Gemäss seiner Visistenkarte sind das nämlich seine Spezialgebiete. Den zweiten Stop lege ich in Edgerton bei Rita's Family Dining ein, kurz vor der Staatengrenze nach Indiana. Ich bestelle mir einen leckeren Ceasar Salad mit Knoblibrot (stört ja keinen). Und als mir die junge Servierdüse die "Pie List" mit über 20 verschiedenen hausgemachten Pies vorlegt, kann ich nicht widerstehen - der dritte Blueberry Pie in 24 Stunden muss her!

13.07. - Was Amerika und mich bewegt

Kurze 64 km stehen mir heute bis Nappanee bevor. Die Wettervorhersage warnt vor Regenschauern bis am frühen Nachmittag, danach soll es sonnig werden. Beim täglichen Kauf meines Wasservorrats an der Tankstelle neben dem Motel warnt mich die Verkäuferin auch noch vor dem erwarteten Regen. Aber nichts dergleichen passiert. Schon nach kurzer Zeit reisst der Himmel auf und es herrscht schönstes Wetter, feucht ist es wie immer. Mein GPS zeigt an, dass ich von den angezeigten 64 km rund 63.5 km auf dem Highway 6 abfahren werde. Again... Ich bin nun seit rund zweieinhalb Wochen unterwegs. Was mir so durch den Kopf geht, wenn ich mich auf meinem Drahtesel abmühe? Vieles und doch nichts beschreibt es vielleicht am Besten. Oftmals sind es Dinge, die mich auf Grund der unmittelbaren Umstände oder Umgebung   beschäftigen, wie z.B.: "Gott, wieso ist es so unterträglich heiss?" - "Nur noch dieser Hügel, dann mach ich Pause." - "Okay, noch einen Hügel mehr schaff ich. Dann Pause." - "Hinter der nächsten Kurve gehts sicher gleich bergab...?" - "Dann halt hinter der nächsten Kurve - biiitteee!" - "Ist das euer Ernst - noch eine Kurve?!" - "Mein Hinterteil schmerzt. Ich muss mal Pause machen." - "Trotz Pause schmerzt's immer noch - wann hört das endlich auf?" - "Ein Windhauch! Endlich etwas Abkühlung! (in Pennsylvania)" - "Scheiss Wind, wann hört der endlich auf? (jetzt in Ohio)" - "Ich rieche etwas - oh, der arme Waschbär!" - "Räumt eigentlich irgendeiner mal die Waschbären weg?" - "Wo stell ich mich unter, wenn's jetzt anfängt zu regnen?" - "Hau ab hab ich gesagt!!(zum Moskito, der mir schon zum 100. mal um den Kopf schwirrt)" - "Hat der jetzt gehupt, um mich zu grüssen/erschrecken/warnen?" - "Huch, der ist aber nah an mir vorbeigerauscht... Gaht's eigentli no!?" - "1, 2, 3, ... 101 Zugwagons an einem Stück - krass!" - "Nur noch 10 km, dann bin ich dort." - "Was?? Immer noch 9.8 km?? Oh Mann..." - "In dem Auto würd ich jetzt auch gerne sitzen." - "Wow, es ist einfach so schön hier draussen!" - "Wieso stellen die sich ein Schild mit 'Pray to end Abortion' in den Garten?" - "Bin ich froh, dass ich nicht hier wohnen muss..." - "Schon wieder ein Haus/Traktor/Rasenmäher zum verkaufen." - "Was will ich machen, wenn ich im Dezember zurück ko... Ohhh, wieder so ein armer Waschbär. Hm, fängts wohl bald an zu regnen? Wo war ich jetzt grad mit meinen Überlegungen stehengeblieben...?" Und so weiter und so fort. Zukunftsweisende, philosophisch grundlegende Gedankengänge waren bis jetzt nur selten dabei. Aber ich hab ja noch die Great Plains vor mir :) Die Themen, die Amerika grad im Moment bewegen, liegen etwas anders. Nebst der Israel-Palästina-Krise (die vor allem medial präsent ist, aber wahrscheinlich weniger in den Wohnzimmern der Leute) sind das vor allem zwei Themen. Das erste ist LeBron James. Nicht, dass ich vorher je von dem Mann gehört hätte... In Akron, Ohio, der Heimatstadt von LeBron, wo ich letzte Woche durchgeradelt bin, hab ich zum ersten Mal vom grössten Basketballer aller Zeiten erfahren. Jessie, der Velomech, hat mir vor dem McDonald's ganz leidenschaftlich von ihm erzählt. Als ich anfangs nachgehakt habe, wer den dieser Lee Brown sei, konnte er sich gar nicht wieder einkriegen: "Whaaa'? You don' kno' LeBron???? He' the best   basketball playa eeevverrr!!" Und dann hat er noch irgendetwas von einem Ring geschwafelt, wo ich dann definitiv abgehängt hab. Tja, und da ist er wieder: Der Superstar, der von den Miami Heats zu den Cleveland Cavalliers nach Hause zurückkehrt. Die Emotionen kochen deshalb nicht nur in Ohio grad hoch. Auch hitzig sind die Diskussionen beim zweiten Thema: Immigration Crisis at the Texan Border. Die Anzahl von unbegleiteten Kindern aus Zentralamerika, die in Texas über die Grenze kommen, ist von 19'000 in 2009 auf über 52'000 Year-to-date gestiegen. Es ist die Sprache von einer humanitären Krise und Obama fordert $ 3.7 Milliarden, um dem Problem Herr zu werden. Natürlich schöpfen die Republikaner aus den Vollen, um Obama wiedermal Unfähigkeit und Versagen vorzuwerfen. Einmal mehr wird mir klar, wie einseitig die einzelnen Fernsehsender hier berichten. Auf Fox halt ich jeweils grad mal fünf Minuten durch, dann muss ich genervt umstellen. O'Reilly & Co. tun ihre extremen Meinungen kund, von einer ausgeglichenen oder seriösen Berichterstattung ist man meilenweit entfernt. Da lob ich mir doch das Schweizer und Deutsche Fernsehen, wo man noch Wert darauf legt, den verschiedenen Stimmen einen Plattform zu geben. Setz ich mir gleich auf meine To-Do-Liste für nach meiner Rückkehr: Arena schauen.

14.07. - Goodbye Amish Country, hello CST

Das B&B The Homespun Country Inn in Nappanee ist wieder einmal eine schöne Abwechslung zu den mehr oder weniger gemütlichen Motels, wo ich normalerweise absteige. Debbie ist eine wirklich tolle Gastgeberin und das hausgemachte Frühstück mit Früchten, selbstgemachten Muffins, Hash Browns und Eggs spielt definitiv einer anderen Liga, wie die Breakfast Platters von Burger King & Co. Heute stehen 110 km auf dem Programm und ich habe etwas Respekt, da wieder einmal Regen angesagt ist und ich nicht weiss, wie der Wind sein wird. Glücklicherweise bleibt es lange Zeit trocken und der Gegenwind ist erträglich. Um Kilometer 60 werden die Wolken dann immer dunkler und dichter, so dass ich am Strassenrand halte und beginne, meine Regenhose und -jacke griffbereit in meiner Lenkertasche zu platzieren. Ich muss einen recht verzweifelten Eindruck machen, denn während ich in meinen Ortlieb-Taschen rumwühle, hält ein Motorradfahrer kurz vor mir auf der 'Shoulder' an. "Everythin' a'right?", fragt er mich leicht besorgt. Ich bejahe und geb ihm zu verstehen, dass ich mich nur für den Wetter-Notfall am rüsten bin. Der Biker stellt sich mir als Rob vor und erzählt, dass er bis vor zehn Jahren Velomechaniker war und jetzt auf Motorräder umgestiegen ist. Er wohnt in der Nähe und warnt mich vor dem Highway 6: "Viele Unfälle, Betrunkene, etc." Warnungen dieser Art höre ich täglich und inzwischen mache mir nicht mehr allzu viel draus. Die Amerikaner hier draussen scheinen mir manchmal etwas ängstlich - oder einfach äusserst vorsichtig? Eine ähnliche Begegnung dieser Art habe ich, als ich meine Zvieri-Pause etwa 20 km später an einer Tankstelle einlege. Da es nun definitiv nach Regen aussieht, stoppe ich und setze mich mit meinem Eistee, meiner Banane und einem Pack Gummibärli vor den Laden. Als es 10 Minuten später in Strömen zu regnen beginnt, bin ich schon wieder in ein Gespräch verwickelt worden. Diesmal sind es zwei ältere Herren, Ex-Polizisten aus Gary, Indiana. Gary ist der Geburtsort von Michael Jackson und ist definitiv nicht unter den Top 10 der 'Most attractive places to live in the US' zu finden. Ausserdem liegt Gary auf meiner Route, um nach Chicago Downtown zu kommen. Jedenfalls warnt mich der dürre, fast zahnlose, Kriegs-Veteran eindringlich: "Nicht mal ich würde dort ohne Kanone hingehen. Sehr schlechte Gegend!" Ich versuche ihm klarzumachen, dass ich mir durchaus bewusst bin, dass es nicht die beste Gegend ist, aber Debbie aus Nappanee hat gemeint, solange ich tagsüber durchfahre, sollte es kein Problem sein. Und Debbie ist in Chicago aufgewachsen, die sollte es wissen - denk ich mir. Ich bin dann beruhigt, als der andere Ex-Cop meint: "They're not gonna do anything to her - look at her!" Ich lache mit, weiss aber nicht genau, was er damit meint... Ich mach mich langsam wieder parat für die Weiterfahrt, denn es hat aufgehört zu regnen. Da ich irgendwo zwischen Walkerton, wo ich bei McDonald's zu Mittag gegessen habe, und hier eine Stunde gewonnen habe - es ist jetzt nicht mehr EST sondern CST - fahre ich ganz entspannt die letzten 30 km und bin bereits um 17.00 im Days Inn in Portage. An der Reception erlebe ich eine schöne Überraschung, als der Lehrling (so sieht er jedenfalls aus) mich fragt, ob ich etwas für mein Bike benötige. Er arbeite auch noch in einem Veloladen in Michigan City und hätte Werkzeug dabei, meint er hilfsbereit. Da mein Hinterreifen seit seinem letzten Platten mit keiner richtigen Pumpe in Kontakt gekommen ist, wär das natürlich genau, was ich brauche. Und prompt zaubert er eine Pumpe aus seinem Kofferraum - Zufälle gibts! Noch das Highlight des Abends, bevor ich bei Denny's nebenan mein wohlverdientes Nachtessen zu mir nehme: Jetzt hat mich grad ein netter Herr aus einem Call Center auf meine US-Handy-Nummer angerufen, um mir einen Termin für die Vorstellung eines neuen Heim-Alarm-Systems aufs Auge zu drücken. Mal was ganz Neues. In der Schweiz gehts meistens um die Krankenkasse oder eine Marktumfrage. Ich hab ihm freundlich erklärt, dass ich leider nicht aus der Gegend sei - sonst natürlich liebend gerne :) Ist mir ein Rätsel, wie die an meine Nummer gekommen sind... 

15.07. - Trotz GPS heil in Chicago angekommen

Der letzten Strecke auf meinem Weg nach Chicago schaue ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Nach der Warnung des Ex-Cops aus Gary von gestern Nachmittag, haben die lokalen Abendnachrichten ausgiebig über die Beerdigung eines erschossenen Polizisten berichtet. Und wie könnte es anders sein: Der Mann wurde im Dienst in Gary getötet. Was auch nicht hilft ist die sicherlich gut gemeinte Frage des Fahrers eines roten Pick-up-Trucks, der knapp 2 km nach meiner Abfahrt von Portage neben mir seine Fahrt verlangsamt: "Do you know where you are going? This is a bad area." - "I am aware of it. Thank you", winke ich ab. Die Gegend ähnelt immer mehr Newark, wo ich an meinem allerersten Tag durchgefahren bin. Die Häuser sehen ärmlicher aus, Läden und Restaurants haben für immer ihre Türen geschlossen und die Bevölkerung besteht fast ausschliesslich aus Afro-Amerikanern. Aber wie auch in Newark, begegnen mir die Leute auf der Strasse freundlich, grüssen mich oder winken mir zu. Ausserdem bewege ich mich auf Hauptstrassen, die dicht befahren sind. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich mal über viel Verkehr freuen würde. Zu meiner rechten Seite tauchen in der Ferne die Steel Mills auf, stillgelegte und noch aktive. Autobahnauf- und -abfahrten in grosser Zahl begleiten mich die nächsten Kilometer. Richtig nervös werde ich erst, als ich in East Chicago einfahre. Die Strassen scheinen verlassen, Verkehr gibt es nur noch wenig. Und einmal mehr eine Warnung. Diesmal von einem Päärchen, dass sicherlich auch schon bessere Zeiten gesehen hat, auf der anderen Strassenseite: "You be careful. This is a bad neighborhood." Am liebsten würd ich über die Strasse zurückrufen: "Reeeaaallyyy? Haven't noticed yet, but thank you very much for pointing this out to me. In that case I will immediately turn around and go back from where I came from!" Mach ich natürlich nicht... Was mich aber belastet: Dass mein GPS mich ständig auf irgendwelche Seitenstrassen leiten will. Ich bleibe stur auf meiner Hauptstrasse und versuche im Fahren auszumachen, wie ich am sichersten nach Whiting kommen kann. Schon nach kurzer Zeit befinde ich mich mitten in der Industriezone von Whiting, wo BP seine sechst grösste Ölraffinerie in den USA betreibt. Die riesigen Fakelanlagen und Machinerien sind aus der Nähe auf eine besondere Art äusserst beeindruckend. Als ich Richtung South Side Chicago komme, taucht endlich das erste Schild des Lakefront Trail's auf. Mein GPS versucht mich zwar direkt durch South Side zu manövrieren, aber ich ignoriere einmal mehr seine Anweisungen. Denn eines weiss ich defintiv und werd mich auch daran halten: South Side ist auf jeden Fall zu meiden. Nun sind es nur noch etwa 15 km bis zum Hotel in Downtown Chicago. Der Weg entlang des Sees ist einfach wunderschön und am meisten freue ich mich über die vielen Velofahrer. Ich fühle mich mit jedem Meter, den ich der Stadt näher komme, weniger wie der komische Vogel, der ich so oft in den letzten Wochen war. Die nächsten Nächte werde ich im Courtyard Marriott verbringen, wo Tommy mich liebenswürdigerweise in seinem Zimmer übernachten lässt. Ich kann es kaum glauben, dass ich nach fast drei Wochen tatsächlich in Chicago angekommen bin. Crazy things can and do happen :)

16.07. - Meine kaputte Zehe und ich

Kaum zu glauben, aber tatsächlich wahr. 10 Minuten auf der Strasse in Chicago und die Zehe meines rechten Fusses schreit nach einem grossen Pflaster und literweise Desinfektions-mittel. Wie könnte es auch anders sein: Drei Wochen auf dem Velo durchs Hinterland der USA und ausser einem chronisch schmerzenden Hinterteil, ein paar beissenden Moskitostichen und einem Sonnenbrand keinerlei Beschwerden. Zwei Blocks weg vom Hotel und dann das... Ich bin auf dem Weg zu einem Bike-Shop, weil ich mir ein ärmelloses Shirt kaufen will, das meine Schulterblätter bedeckt. Somit hoffe ich den einen oder anderen Sonnenbrand wegen uneingecremtem Rückenpartien vermeiden zu können. Während ich mich interessiert in der Gegend umschaue, das eine oder andere Foto schiesse und währenddessen mein Jäcklein ausziehe, weils warm ist, schlag ich mir meine Zehe an einer Trottoirplatte. Es tut zwar weh und ich schimpfe wieder mal wie ein Rohrspatz vor mich hin, aber denke mir nichts weiter dabei. Ich bin mir gewohnt, dass es überall und immmer etwas gibt, wo ich mir Schienbein & Co. aufschlagen kann. Leider siehts diesmal anders aus. Und ich kann kein Blut sehen... Livia kann das bezeugen, weil sie in einer Bio-Stunde in der Sekundarschule neben mir sass, als ich ohnmächtig vom Stuhl gekippt - und as auf Grund eines Films. Ich beginne zu schwitzen, als sässe ich in einer finnischen Sauna. Glücklicherweise ist Kozy's nur einen Block weg. Ich humple dort hin, stürme an die Kasse und   erkläre dem Hipster an der Kasse verzweifelt: "I want to buy a shirt, but just crushed my toe really bad on the pavement and really need a restroom..." Er schickt mich in den hinteren Teil des Ladens, wo ich mich sofort auf dem WC niederlasse. Ich fühle den kalten Schweiss überall und versuche an Strand, Meer und das Rauschen der Wellen zu denken. Das hat die letzten Jahre immer gut funktioniert, wenn ich irgendwo beim Arzt auf dem 'Schraggen' gelegen habe für unangenehme Prozeduren. Das Rauschen der Wellen hat dann jeweils das Rauschen des Bluts in meinen Ohren übertönt und mich vor einer Ohnmacht bewahrt. Funktioniert auch auf dem WC des Veloladens wie ich heute rausgefunden habe. Wär ich jetzt mit dem Velo unterwegs gewesen, hät ich meine Notfallapotheke griffbereit gehabt. So sitzt das Täschli mit Pflaster und Merfen nutzlos in einem Hotelzimmer, das mindestens fünf Lichtjahre weg ist. Super... Ich wickle mir massenweise WC-Papier um die Zehe,   probiere ein Shirt, kaufe es und humple wieder raus auf die Strasse. Mein Google-Maps-App zeigt mir eine Apotheke zwei Blocks weg an. Dort angekommen finde ich nur einen Blumenladen an der Adresse. Weit und breit nichts, das auch nur annähernd danach aussieht, als ob es   Verbandsmaterial zu kaufen gäbe. "Grossartig," denk ich mir und spühre meine Zehe pulsieren. Wenigstens gibt es den Walgreen's noch, der mir das App als nächstes anzeigt. Nochmals zwei Blocks weiter und ich kriege alles, was ich brauche. Auf dem Parkplatz vor dem Laden führe ich kurz darauf meine Notoperation erfolgreich durch. Das war Rettung in letzter Sekunde :) Ansonsten ist Chicago einfach fantastisch: Übersichtlicher als New York City, mit all den Shops und tollen   Restaurants (e.g. Farmhouse or Osteria via Stato), die man ähnlich im Big Apple auch findet, tolle Architektur, einen See vor der Haustür, wo man entspannen und baden kann, schöne Parks, verschiedenste Museen usw. Was will man mehr?

18.07. - Auf dem Weg zu Familie Seiler

Nach fast vier Tagen Chicago ist es am Freitag Zeit für die nächste Etappe. Die bringt mich nach Arlington Heights, ca. 40 km nördlich von Chicago Downtown. Dort hab ich mich bei Familie Seiler angekündigt für das Weekend. Thierry kenne ich noch von meinen McKinsey-Zeiten, wo er damals als Berater unser Recruiting-Team mit Interviews, bei ein paar lustigen Studenten-Workshops und hochspanenden Uni-Präsentationen unterstützt hat. Er ist seit Mai mit seiner Frau Nathalie und den beiden Töchtern Malou und Leanne in die USA gekommen, wo er nun für die Zurich die nächsten zwei Jahre Aussergewöhnliches leisten wird. Und ich hab mich quasi selber eingeladen :) Doch ich freue mich sehr, Thierry und Nathalie nach langer Zeit wiederzusehen. Als ich Tommy in Chicago getroffen habe, ist mir bewusst geworden, wie gut es tut, auf einem solchen Trip zwischendurch mal wieder jemanden Bekanntes aus der Heimat oder guten alten Zeiten zu treffen. Das Treffen mit Valentin ist übrigens nicht zu Stande gekommen, da er erst am Samstag in der Stadt eintreffen wird. Was nicht weiter schlimm ist, denn die ersten zwei Abende in der Stadt habe ich in bester Gesellschaft mit Tommy verbracht, einen davon noch mit seinem Team anlässlich eines Abschiedsessens einer Arbeitskollegin. Und den 'freien' Abend hab ich dann für einen Kinobesuch genutzt: Dawn of the Planet of the Apes. Wer weiss, wann ich das nächste Mal Gelegenheit dazu haben werde - wahrscheinlich nicht vor Salt Lake City... Also mach ich mich am Freitag um rund 15.00 in der Lobby des Hotels reisefertig und manövriere mein Velo, mich und meine Taschen durch den Vor-Wochenend-Verkehr so gut es geht. Zum Glück ist der Lakefront-Trail nur einige Block weg vom Hotel, so dass ich mich schon nach ein paar Minuten am Lake Michigan befinde. Ich fahre mit den vielen anderen Velofahrern dem Ufer entlang, geniesse das herrliche Wetter, den lauen Wind und staune ab den schönen Stränden und Parks die es die nächsten Kilometer hat. Man könnte meinen man sei am Meer! Nach ein paar Kilometern gesellt sich ein anderer Biker zu mir. Er heisst Robert und fährt jeden Tag mit dem Velo zur Arbeit, egal ob Sonnenschein, Regen oder Schnee - von dem es hier im Winter reichlich gibt. Robert erzählt mir begeistert, dass er vor vielen Jahren von Vancouver nach Montreal geradelt ist, was etwa rund 4'000 km sind. Der Grund war ein guter Freund, der an Krebs erkrankte und eine solche Reise auf seiner Bucket List hatte. Er hat damals eine Auszeit genommen, seine Familie zu Hause gelassen und ist während über drei Monaten mit diesem Freund durch Kanada geradelt. Ich frage mich dabei, wieso wir oft solch drastische Ereignisse in unserem Leben brauchen, um gewisse Dinge zu tun, die wir schon immer mal machen wollten. Nach ein paar kurzweiligen Kilometern trennen sich unsere Wege wieder. Ich verlasse die Seepromenade, um Richtung O'Hare Flughafen zu fahren und um schlussendlich das neue Heim der Familie Seiler zu erreichen. Nach vielen idyllischen Vor-orten und unzähligen Rotlichtern komme ich kurz nach 18.00 an meinem Ziel an. Es erwarten mich nebst einem herzlichen Empfang, ein kaltes Glas Weisswein, ein saftiges Riesen-Steak vom Broil-King, eine Gesangseinlage von Malou aus dem Disney-Film Frozen, stechwütige Moskitos auf dem schönen Gartensitzplatz, ein kurzweiliger Abend und ein gemütliches King-Size-Bett. Ich freue mich auf ein entspanntes Wochenende!